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Hintergrund und Ziel der Studie

Sexarbeiterinnen sind in vielen Ländern von systematischer Gewalt, Stigmatisierung und mangelndem Schutz durch Strafverfolgungsbehörden betroffen. Dies trifft insbesondere auf Länder zu, in denen Sexarbeit ganz oder teilweise kriminalisiert ist. Die vorliegende Studie untersucht, inwieweit Sexarbeiterinnen in Kanada unter dem „End Demand“ Modell der Kriminalisierung (Nordisches Modell) Zugang zu polizeilichem Schutz haben, insbesondere in Notfällen, in denen sie Gewalt oder Freiheitsberaubung ausgesetzt sind.

Seit der Einführung des Protection of Communities and Exploited Persons Act (PCEPA) im Jahr 2014 verfolgt Kanada ein Gesetzesmodell, das den Kauf sexueller Dienstleistungen sowie Drittparteien wie Bordellbetreiber oder Sicherheitskräfte kriminalisiert, während die direkte Ausübung von Sexarbeit unter bestimmten Bedingungen legal bleibt. Diese Gesetzgebung wurde mit der Absicht eingeführt, Sexarbeiterinnen zu schützen und ihnen den Ausstieg aus der Branche zu erleichtern. Kritiker argumentieren jedoch, dass diese Regelung Sexarbeiterinnen in unsicherere Arbeitsbedingungen zwingt, indem sie sie in versteckte oder ungeschützte Räume drängt und ihre Fähigkeit einschränkt, Gewalt zu melden oder Unterstützung zu erhalten.

Ziel der Studie war es, zu untersuchen:

  1. Wie viele Sexarbeiterinnen sich in Notfällen nicht in der Lage fühlen, die Polizei zu rufen.

  2. Welche Faktoren mit dieser Unfähigkeit zusammenhängen.

  3. Wie Sexarbeiterinnen sich aus gefährlichen Situationen befreien und wer ihnen dabei hilft.

Methodik

Die Studie wurde in fünf kanadischen Städten durchgeführt: Toronto, Montreal, Ottawa, Surrey und Sudbury. Sie basiert auf einer Umfrage unter 200 Sexarbeiterinnen, darunter cis- und transgeschlechtliche Personen sowie nicht-binäre Personen. Die Teilnehmenden wurden gezielt rekrutiert, um die Erfahrungen von marginalisierten Gruppen – insbesondere indigene, schwarze und drogenkonsumierende Sexarbeiterinnen – zu erfassen.

Die Erhebung erfolgte durch strukturierte Interviews und Fragebögen, die Informationen zu folgenden Bereichen sammelten:

  • Soziodemografische Daten (Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlechtsidentität)

  • Arbeitskontext (z. B. Indoor- oder Straßen-Sexarbeit)

  • Erfahrungen mit Gewalt und Freiheitsberaubung

  • Erfahrungen mit Polizeikontakten und Gesetzesvollzug

  • Zugang zu Notfalldiensten (insbesondere die Möglichkeit, 911 zu rufen)

  • Unterstützung durch andere Personen in Notfällen

Zur Analyse wurden statistische Methoden wie logistische Regressionen eingesetzt, um Zusammenhänge zwischen verschiedenen Faktoren und der eingeschränkten Möglichkeit, die Polizei zu rufen, zu identifizieren.

Ergebnisse

1. Eingeschränkter Zugang zu Notfalldiensten

  • 31 % der befragten Sexarbeiterinnen gaben an, dass sie in einem Notfall nicht die Polizei rufen könnten, weil sie Angst vor negativen Konsequenzen hatten.

  • 29,5 % sagten, dass sie sich selbst nicht sicher fühlten, die Polizei zu rufen, und 27 % hatten dieselbe Angst für Kolleginnen.

  • Indigene Sexarbeiterinnen waren mit 36,4 % besonders betroffen.

  • Sexarbeiterinnen, die in den letzten 12 Monaten Polizeischikanen erfahren hatten, berichteten fast doppelt so häufig über die Unfähigkeit, die Polizei zu rufen (47,4 % vs. 21,6 %).

2. Risikofaktoren für die Unfähigkeit, 911 zu rufen

Die Studie identifizierte mehrere Faktoren, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verbunden waren, dass Sexarbeiterinnen in Notfällen keine Polizei rufen konnten:

  • Polizeiliche Schikanen: Sexarbeiterinnen, die in den letzten 12 Monaten von der Polizei belästigt, verfolgt oder kontrolliert wurden, hatten ein fünfmal höheres Risiko.

  • Indigene Herkunft: Indigene Sexarbeiterinnen waren mehr als doppelt so häufig betroffen.

  • Wohnort Ottawa: In Ottawa war die Wahrscheinlichkeit, dass Sexarbeiterinnen nicht die Polizei rufen konnten, deutlich höher als in Toronto.

  • Jüngeres Alter: Jüngere Sexarbeiterinnen berichteten häufiger, dass sie sich nicht sicher fühlten, die Polizei zu kontaktieren.

3. Erfahrungen mit der Meldung von Gewalt

  • Von den 115 Sexarbeiterinnen, die im vergangenen Jahr Gewalt oder Freiheitsberaubung erlebt hatten, meldeten nur 16,5 % dies der Polizei.

  • 42,1 % derjenigen, die eine Meldung erstatteten, hatten eine negative Erfahrung mit der Polizei gemacht.

  • Nur 5,2 % aller Sexarbeiterinnen, die Gewalt erlebt hatten, meldeten dies und hatten eine positive Erfahrung dabei.

4. Unterstützung bei Gewalt und Freiheitsberaubung

Da die Polizei oft nicht als Schutzinstanz fungiert, sind Sexarbeiterinnen auf alternative Netzwerke angewiesen:

  • Andere Sexarbeiterinnen (40,5 %) waren die häufigste Hilfequelle, insbesondere Kolleginnen mit gemeinsamen Ausgaben (35,1 %).

  • Freunde, Familie, Liebespartner (29,7 %)

  • Kunden (24,3 %)

  • Sicherheitskräfte oder „Spotter“ (13,5 %)

  • Personen in Drogenkonsumeinrichtungen (10,8 %)

  • Bordellbetreiber oder Manager (10,8 %)

  • Nur 5,4 % der befragten Sexarbeiterinnen berichteten, dass die Polizei ihnen geholfen habe, aus gefährlichen Situationen zu entkommen.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass das Nordische Modell nicht zu mehr Schutz für Sexarbeiterinnen führt, sondern vielmehr ihre Sicherheit gefährdet. Die Kriminalisierung von Kunden und Drittparteien führt dazu, dass Sexarbeiterinnen vermehrt isoliert arbeiten müssen, was ihr Risiko für Gewalt erhöht. Zudem sorgen Polizeipraktiken wie Überwachung, Belästigung und willkürliche Kontrollen dafür, dass Sexarbeiterinnen sich nicht sicher fühlen, die Polizei um Hilfe zu bitten.

Besonders betroffen sind indigene Sexarbeiterinnen, die ohnehin struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Ihre Angst vor Polizeiübergriffen ist historisch begründet und wird durch aktuelle Erfahrungen verstärkt.

In Ländern wie Neuseeland, wo die Sexarbeit vollständig entkriminalisiert wurde, berichten Sexarbeiterinnen von einer besseren Zusammenarbeit mit der Polizei und einem verbesserten Schutz vor Gewalt. Die Studie unterstützt daher Forderungen nach einer Entkriminalisierung der Sexarbeit, um den Zugang zu Notfalldiensten zu verbessern.

Fazit und politische Implikationen

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass das kanadische End Demand-Modell (Sexkaufverbot) Sexarbeiterinnen in gefährlichere Situationen bringt, anstatt sie zu schützen. Die Kriminalisierung von Kunden und Drittparteien verschärft die Isolation und verhindert, dass Sexarbeiterinnen in Notfällen Hilfe rufen können.

Die Autoren empfehlen daher:

  1. Eine vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit, um den Zugang zu Schutz und Notfalldiensten zu verbessern.

  2. Strukturelle Reformen der Polizeiarbeit, um rassistische und diskriminierende Praktiken zu reduzieren.

  3. Den Ausbau von Peer-geführten Unterstützungsangeboten, da Sexarbeiterinnen sich primär gegenseitig helfen.

Die Ergebnisse dieser Studie liefern starke Argumente für eine grundlegende Neuausrichtung der Sexarbeitsgesetzgebung hin zu einem menschenrechtsbasierten Ansatz.

Der Volltext der Studie (englisch) findet sich hier.