Die zwei Gesichter

Dieser Beitrag ist entstanden als ein Kommentar zu einem Artikel von Sonja Dolinsek in der Frankfurter Rundschau vom 6. August 2024 under dem Titel »Menschenrechte für Prostituierte!«

Mein Name ist Janus. Wie der römische Gott mit den zwei Gesichtern muss ich als Kunde von Sexarbeiterinnen in der Gesellschaft zwei Gesichter haben; einmal das Gesicht des anonymen Bürgers, dem man auf der Straße begegnet und den man niemals mit Sexarbeit in Verbindung bringen würde, und dann das zweite Gesicht, jenes des Freiers, der sich aufgrund des Stigmas der Sexarbeit und ihrer Kundschaft und aufgrund der Irrationalität der öffentlichen Diskussion nur mithilfe eines Pseudonyms traut, sich öffentlich zu äußern.

Angesichts der ambivalenten Emotionen, die die Diskussionen rund um die Sexarbeit – sowie alle Menschen und somit auch mich selbst – durchziehen, möchte ich versuchen, einen Beitrag zur Diskussion zu leisten.

Das Sexkaufverbot in Frankreich und das immer lauter werdende Bedürfnis vieler Gruppierungen und Politiker nach einem Sexkaufverbot macht vielen Kunden von Sexarbeit Angst.

‚Na, wunderbar‘, werden viele GegnerInnen von Sexarbeit denken und sich begierig die Hände reiben. Denn damit wäre in ihren Augen der Zweck ihrer Bemühungen erfüllt. Die Inanspruchnahme von Sexarbeit wird mit sexuellem Missbrauch gleichgesetzt und dementsprechend sollen die Kunden mithilfe der Androhung von Strafen abgeschreckt werden (vgl. BesD e.V. (n.d.) u. Ovidie (Director), 2017).

In Anlehnung einer Bemerkung der Pornoregisseurin Paulita Pappel (Rein&Raus (Podcast), 2021/22; vgl. auch Hausbichler, 2023 u. emotion Magazin, 2022) muss ich sagen, dass die GegnerInnen von Sexarbeit – ähnlich wie die GegnerInnen von Pornographie – einem Märchenbild bzgl. Sexualität nachhängen: Wie Pappel kritisiert, nehmen viele Menschen das (nicht vorhandene) Bild von Sexualität aus romantischen Komödien ernst und fürchten praktisch alles, was jenseits dieses Beziehungsmodells liegt (ebd.).
Diesem Bild schließe ich mich an und würde sagen, dass die GegnerInnen von Sexarbeit (vor allem CDU/CSU und RadikalfeministInnen) alles, was außerhalb der monogamen Märchen-Beziehung liegt, mit Angst betrachten. Wie schon oben gesagt hängen sie einem mittelalterlichen Märchenbild hinterher, wo Mann und Frau sich treffen und Kinder in die Welt setzen. Und zum Durchsetzen dieser mittelalterlichen Vorstellung von Sexualität, beziehen sich die genannten Gruppen auch auf Märchenzahlen, die belegen sollen, dass der Großteil der SexarbeiterInnen allesamt Missbrauchsopfer und – ich bitte um Verzeihung – seelische Krüppel seien.

Die angeblichen Zahlen von Zwangsprostituierten, die von Dorothee Bär, Alice Schwarzer, Leni Breymaier und Annette Widmann-Mauz durch die Presse gerufen wurden, stellten sich bereits vor ca. 10 Jahren als nicht belegte Zahlen und willkürliche Behauptungen heraus:
Hierbei sei auf folgenden Artikel verwiesen:

Deckler, J. (2015). Die Spur der 40.000 Prostituierten – Ein Gerücht sein Weg in die Medien. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-spur-der-40-000-prostituierten-ein-geruecht-und-sein-100.html (vgl. auch Dona Carmen e.V., 2024, S. 3, Fußn. 2)

Zu den Freiern kann ich nur eines sagen:
Wir sind keine zähnefletschenden, grünhäutigen, mit Klauen ausgestatteten Monster, als die wir gerne hingestellt werden. Wir sind verheiratet, Familienmenschen; manche leben allein. Manche wollen ihren Horizont erweitern, andere wollen ihr Gleichgewicht aufrechterhalten; viele sind gesund; einige sind eingeschränkt.
Ich selbst leide an einer psychischen Erkrankung.
Falls die GegnerInnen jetzt aufjubeln und meinen, ich würde das Klischee erfüllen, dann muss ich sie daran erinnern, dass psychische Krankheiten genauso ernst zu nehmen sind wie körperliche Erkrankungen.

Aber darum geht es hier nicht.

Wir sind Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, mit unterschiedlichen Lebensläufen usw.

Wie schon die Sexarbeiterin Kristina Marlen sagte:
„SexarbeiterInnen und ihre KundInnen sind ja nicht die Anderen, sondern das sind unsere KollegInnen. Das sind die Leute, die U-Bahn fahren. Das sind Kommilitonen. Das sind Freund wahrscheinlich, Freundinnen. Die sind überall. Das heißt: Keine Verachtung. Auch keine Verächtlichkeit. Und Mitleid ist mit die perfideste Form der Arroganz und … und der Entmündigung. (…)“ (Müller (Autorin), 2017)

Und wir verbitten uns auch jegliche Art von Mitleid.

Wir gehen zu SexarbeiterInnen, weil wir als Menschen soziale Wesen sind und keine Lust haben, unsere sexuellen Bedürfnisse nur durch Masturbation Befriedigung zu verschaffen; unabhängig davon, ob wir verheiratet sind oder nicht.

Unser Bedürfnis nach Kommunikation befriedigen wir schließlich auch nicht nur durch Selbstgespräche.

Angesichts der erhitzten Gemüter und einer Debatte, in der sich die gegenüberstehenden Parteien wie mit Reißzähnen zeigende Wolfsrudel gegenüber stehen, ist der Artikel von Dolinsek mal eine Abwechslung.

Doch eine Bemerkung muss gemacht werden:
Durch die politische und auch die gesellschaftliche Landschaft in Deutschland durchzieht sich ein sexueller Analphabetismus:
Die AFD macht sich aus Angst vor Gendern die Hose ganz braun; bei CDU/CSU sieht es auch nicht anders aus. Einige linke Gruppierungen wünschen sich ähnlich wie einige RadikalfeministInnen ‚eine Welt ohne Prostitution‘.

Doch fragen sie mal eher die Frauen, die in der Sexarbeit tätig sind, oder mal die Wissenschaft, was die dazu sagt. Wenn, dann nur in den Fällen, die die eigene Erwartung erfüllen; so wie Menschen halt sind.

Erstaunlich ist dabei, dass sich beispielsweise christliche Parteien und FeministInnen in dieser Diskussion die Hand reichen; eigentlich Gruppierungen, die sich gegenseitig scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Die Sexarbeiterin Undine de Riviére hat 2018 geschrieben, dass es den jeweiligen Gruppierungen um Kontrolle geht:
„Ich finde es unfassbar zynisch, über die Köpfe der Betroffenen hinweg Entscheidungen zu treffen und dabei von Schutz und Menschenwürde zu reden. Früher musste man die Gesellschaft vor uns Huren bewahren, heute muss man uns wahlweise vor unseren Vermieter_innen, vor unseren Kunden oder vor uns selbst retten. Die geforderten repressiven Maßnahmen sind dieselben. Dahinter stecken ganz andere Ziele: von konservativchristlicher Seite die Kontrolle über die Sexualität des Menschen, von patriarchaler Seite Kontrolle über die Sexualität der Frau, und von radikalfeministischer Seite Kontrolle über die Sexualität des Mannes.“ (Rivière, 2018, S. 46)

Dieses Spiel, die Sexualität der Menschen zu kontrollieren, kennen wir von Diktaturen, religiösen Fundamentalisten und Sekten.

Dass sich die CDU/CSU in diese Reihe einreihen will, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass ab 1933 die Sexualwissenschaft zermalmt und ihre Vertreter verfolgt und ermordet wurden (Baureithel, 2010 u. Archive of Sexology, 2010). Dieser Bildungsrückstand wurde nie aufgeholt.

Und falls jetzt auf Opfer der Zwangsprostitution wie Huschke Mau verwiesen wird:
Zu Frau Mau kann ich mir kein Urteil erlauben. Wenn man über ihre Erfahrungen liest, kann man verstehen, dass sie nicht mehr als Opfer, sondern als starke Frau gegenübertreten will, und dieser Wunsch sollte ihr niemals abgesprochen werden.
Was mir nur Angst macht, ist die Verallgemeinerung derartiger Erfahrungen. Obwohl die GegnerInnen von Sexarbeit viele Freier und mich nicht kennen, wird sich ein Urteil über uns erlaubt und wir werden nicht nach unseren Motiven gefragt.

Es erinnert an den hinduistischen Mythos der Göttin Kali, die gegen die Dämonen kämpfte; völlig beseelt von Wut und Aggression war sie nicht mehr zu bändigen, sodass sich ihr Gemahl Shiva angeblich totstellte und die Göttin daraufhin innehielt (N.N., n.d.).

Ähnlich war auch im ägyptischen Mythos die löwenköpfige Kriegsgöttin Sachmet nicht mehr aufzuhalten und es wurde ihr durch eine List Bier zu trinken gegeben, wodurch sie müde wurde und sich hinlegte (N.N., n.d.).

Was ich damit sagen will: Der Schutz von Frauen und die Beendigung von Gewalt sind noble Ziele; allerdings muss davor gewarnt werden, dass die Wut sich verselbstständigen kann und nur noch um ihrer selbst willen existiert.

Abschließend kann gesagt werden: Wenn die Leute, die Sexarbeit verbieten wollen, rufen: ‚Ihr Freier redet nur von euch. Um die Frauen macht ihr euch keine Gedanken.‘ Daraufhin kann ich nur sagen: Natürlich reden wir von uns. Man will uns ans Leder. Und das macht Angst.

Jedoch geht es uns auch um die Frauen: Zum einen möchten wir nicht auf die zwischenmenschlichen Begegnungen verzichten. Zum anderen können wir ihnen nur soweit helfen, wie sie es uns erlauben.
Alles andere wäre übergriffig.

Deswegen gehen wir mit ihnen auf die Straße, wenn sie uns bitten, oder melden uns zu Wort. Es ist auf alle Fälle besser als eine Heuchelei an den Tag zu legen, die darin bestehen würde, lautstark nach dem Verbot von Sexarbeit zu rufen und hinter dem Rücken meiner Mitmenschen heimlich zu SexarbeiterInnen zu gehen.

Nein, vielen Dank.

Wir sind Freier. Ich bin ein Freier. Es ist vielleicht nicht so traumhaft wie das Märchen vom Prinzen, der die Prinzessin wachküssen darf; aber es ist die Realität.

Und zur Realität gehört auch, dass SexarbeiterInnen Respekt verdienen.
Das sollte hinter die Ohren geschrieben werden.

Quellen:

Baureithel, U. (2010). Forscher der Lust – Volkmar Sigusch erinnert an die jüdischen Begründer der Sexualwissenschaft. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/forscher-der-lust/

BesD e.V. (n.d.). Themenkomplex: Sondergesetze & Kriminalisierung – Informationen zur Vermischung von sexueller Ausbeutung bzw. Menschenhandel mit Sexarbeit und zum Schwedischen Modell (Freierbestrafung, Sexkaufverbot). Zugriff am 14.08.2024 von https://www.berufsverband-sexarbeit.de/index.php/sexarbeit/freierbestrafung-kriminalisierung-menschenhandel-schwedisches-modell/#historie

de Rivière, U. (2018). Mein Huren-Manifest. Inside Sex-Business (Originalausgabe). München: Wilhelm Heyne Verlag.

Delcker, J. (2015). Die Spur der 40.000 Prostituierten – Ein Gerücht und sein Weg in die Medien. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-spur-der-40-000-prostituierten-ein-geruecht-und-sein-100.html

Dolinsek, S. (2024). Menschenrechte für Prostituierte! (Gastbeitrag). Zugriff am 14.08.2024 von https://www.fr.de/meinung/menschenrechte-fuer-prostituierte-93228125.html

Dona Carmen e.V. (2024). „Sommermärchen“ – Von der WM 2006 zur EM 2024. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.donacarmen.de/wp-content/uploads/Sommerm%C3%A4rchen.pdf

emotion Magazin (Producer). (2022). Wie sieht sexpositiver Feminismus aus? Kaisa trifft Paulita Pappel 183 (Interview). Hamburg: Emotion Verlag GmbH. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.youtube.com/watch?v=aKa0nVorz1k

Haeberle-Hirschfeld-Archive of Sexology (Producer). (2013). Sexology: Its Jewish Pioneers (Video). Berlin: Humbold-Universität. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.youtube.com/watch?v=Kxouwe_iL54

Hausbichler, B. (2023). Paulita Pappel: „Unsere Sexualität wird mit Angst kontrolliert“. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.derstandard.de/story/3000000184323/paulita-pappel-unsere-sexualitaet-wird-mit-angst-kontrolliert

Müller, U. (Autorin). (2017). Frauen kaufen Sex – Kristina Marlen bei Frau tv (2017). Zugriff am 14.08.2024 von https://www.youtube.com/watch?v=nY89TT3uqaQ

N.N. (n.d.). Kali (Göttin). Zugriff am 14.08.2024 von https://de.wikipedia.org/wiki/Kali_(G%C3%B6ttin)

N.N. (n.d.). Sachmet. Zugriff am 14.08.2024 von https://de.wikipedia.org/wiki/Sachmet

Ovidie (Director). (2017). Wo Sexarbeiterinnen keine Rechte haben (Dokumentation). Straßburg: MAGNETO Presse und ARTE France. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.youtube.com/watch?v=vCB1vZq–uY

Rein&Raus (Producer). (2021/2022). Rein&Raus. Folge 96 – Porn >Mit Paulita Pappel über Homemade Pornos und feministische Gangbangs (Podcast). München: P. Gabriel Workshops. Zugriff am 14.08.2024 von https://www.youtube.com/watch?v=zjEBnX175LU