Die Studie „A Review of the Criminalisation of Paying for Sexual Services in Northern Ireland“ von Graham Ellison et al. (2019) untersucht die Auswirkungen der Einführung von Artikel 64A des Sexual Offences (Northern Ireland) Order 2008, welcher den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellt. Die Untersuchung basiert auf umfangreichen quantitativen und qualitativen Datenquellen, darunter eine Umfrage unter Sexarbeiter:innen, Interviews und eine Analyse von Online-Werbeanzeigen.
Hintergrund und Ziele der Studie
Die Gesetzesänderung wurde 2015 eingeführt und orientiert sich am sogenannten Nordischen Modell, das die Nachfrage nach Prostitution reduzieren soll, indem es den Kauf von sexuellen Dienstleistungen kriminalisiert. Die Untersuchung setzt sich das Ziel, die Auswirkungen dieser Gesetzesänderung auf die Sexindustrie, die Sicherheit und das Wohlbefinden von Sexarbeiter:innen sowie auf den Menschenhandel in Nordirland zu evaluieren. Darüber hinaus soll untersucht werden, ob sich das Gesetz auf das Verhalten der Freier auswirkt und ob alternative Maßnahmen zur Regulierung von Prostitution effektiver wären. Ein weiteres Ziel der Studie ist es, festzustellen, ob die Gesetzesänderung dazu beigetragen hat, den gesellschaftlichen Umgang mit Prostitution zu verändern, insbesondere in Bezug auf Stigmatisierung und öffentliche Wahrnehmung.
Methodik der Studie
Die Studie basiert auf mehreren methodischen Ansätzen:
Analyse von Online-Werbeanzeigen: Über 173.000 Werbeanzeigen für sexuelle Dienstleistungen aus den Jahren 2012 bis 2018 wurden analysiert, um Veränderungen in der Angebotsstruktur zu identifizieren.
Umfrage unter Sexarbeiter:innen: Eine Online-Umfrage wurde durchgeführt, um demografische Daten, Einkommensverhältnisse, Arbeitsbedingungen und Sicherheitsempfinden zu erfassen.
Interviews mit Sexarbeiter:innen: Qualitative Interviews boten detaillierte Einblicke in die Erfahrungen und Herausforderungen der Betroffenen.
Analyse von Polizeidaten: Zahlen zu Verhaftungen und Verurteilungen wurden ausgewertet, um die Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz zu bewerten.
Interviews mit Strafverfolgungsbehörden und Sozialarbeitern: Gespräche mit Polizei und Hilfsorganisationen halfen, die Auswirkungen des Gesetzes aus institutioneller Sicht zu verstehen.
Analyse von Berichten über Gewalt und Missbrauch: Berichte von Unterstützungsorganisationen und Online-Plattformen für Sexarbeiter:innen wurden ausgewertet, um Veränderungen in der Bedrohungslage zu erfassen.
Ergebnisse der Studie
1. Veränderungen in der Sexindustrie
Die Zahl der Sexarbeiter:innen, die ihre Dienste online bewerben, hat nach der Einführung des Gesetzes nicht abgenommen, sondern ist um ca. 5 % gestiegen.
Viele Sexarbeiter:innen wechseln häufig zwischen der Branche und anderen Erwerbsquellen, was darauf hindeutet, dass Prostitution oft eine temporäre Einkommensquelle darstellt.
Der Straßenstrich in Belfast hat weiter abgenommen, was jedoch bereits vor der Gesetzesänderung der Fall war.
Die Migration von Sexarbeiter:innen innerhalb des Vereinigten Königreichs und aus anderen Ländern hat sich nicht wesentlich verändert.
Sexarbeiter:innen berichteten von neuen Herausforderungen bei der Kundenakquise, da viele Freier aus Angst vor Strafverfolgung vorsichtiger agieren.
2. Einkommen und Arbeitsbedingungen
53,7 % der Befragten gaben an, dass Sexarbeit ihre einzige Einkommensquelle ist, während 46,3 % zusätzlich einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen.
57,4 % der Befragten gaben an, dass sie mit Sexarbeit mehr verdienen als in anderen Berufen, 22,3 % verdienen „etwas mehr“.
Etwa 20 % der Befragten sind Student:innen, die durch Sexarbeit ihr Studium finanzieren.
Sexarbeiter:innen beklagen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, da sie vermehrt auf diskretere, aber unsicherere Treffen angewiesen sind.
Durch die Gesetzesänderung wurden einige Sexarbeiter:innen in finanzielle Unsicherheit gedrängt, da sie weniger Kunden haben oder ihre Preise senken mussten.
3. Sicherheitslage und Kriminalität
41,8 % der Befragten gaben an, dass ihre Arbeit durch die Gesetzesänderung „viel gefährlicher“ geworden ist, weitere 14,9 % empfinden sie als „etwas gefährlicher“.
Die Kriminalisierung der Freier führt dazu, dass Sexarbeiter:innen vermehrt auf unsichere Kunden treffen, da diese sich vor Entdeckung fürchten und daher diskret agieren.
Viele Sexarbeiter:innen arbeiten nun isolierter, da sie sich nicht mehr gemeinsam mit Kolleg:innen organisieren können, um Razzien zu vermeiden.
Die gemeldeten Fälle von Gewalt gegen Sexarbeiter:innen sind laut Daten von Hilfsorganisationen angestiegen.
In Interviews berichteten Sexarbeiter:innen von vermehrten Fällen verbaler und physischer Übergriffe durch Kunden, die sich ihrer Straflosigkeit sicher fühlten.
4. Wirkung des Gesetzes auf Menschenhandel
Die Studie konnte keine signifikante Reduktion des Menschenhandels durch die Gesetzesänderung nachweisen.
Zwischen 2015 und 2018 wurden in Nordirland 31 Verhaftungen im Zusammenhang mit Menschenhandel registriert, jedoch führten nur zwei dieser Fälle zu einer Verurteilung.
Ein signifikanter Rückgang der Anzahl von Sexarbeiter:innen, die aufgrund von Zwang oder Menschenhandel tätig sind, konnte nicht festgestellt werden.
Behördenvertreter gaben an, dass die Gesetzesänderung keine wesentlichen neuen Ermittlungserfolge bei Menschenhandel ermöglicht habe.
Experten weisen darauf hin, dass eine effektive Bekämpfung des Menschenhandels eher durch verbesserte soziale und wirtschaftliche Unterstützung erreicht werden kann als durch die Kriminalisierung von Freiern.
Schlussfolgerungen
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass das nordische Modell in Nordirland nicht zu einer signifikanten Reduzierung der Sexarbeit oder des Menschenhandels geführt hat. Vielmehr zeigt sich, dass die Kriminalisierung der Freier zu einer größeren Gefährdung der Sexarbeiter:innen führt, indem diese gezwungen sind, unter riskanteren Bedingungen zu arbeiten. Zudem bleibt die Nachfrage nach Sexarbeit bestehen, sodass das Gesetz sein primäres Ziel nicht erreicht hat.
Die Forscher empfehlen eine Überprüfung der Gesetzgebung und schlagen eine evidenzbasierte Politik vor, die die Sicherheit und Rechte von Sexarbeiter:innen in den Mittelpunkt stellt. Alternativ könnte ein Modell geprüft werden, das eine vollständige Entkriminalisierung in Verbindung mit strengeren Maßnahmen gegen Menschenhandel vorsieht. Die Forscher betonen zudem die Notwendigkeit, alternative wirtschaftliche Perspektiven für Menschen zu schaffen, die aus der Sexarbeit aussteigen möchten, und fordern verstärkte Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit über die realen Herausforderungen und Gefahren der Prostitution.
Der Volltext der Studie (englisch) findet sich hier.