Einleitung und Hintergrund
Die Studie „An Evaluation of Indoor Sex Workers’ Sexual Health Access in Metro Vancouver: Applying an Occupational Health & Safety Lens in the Context of Criminalization“ von Pearson et al. (2023) untersucht in einem kanadischen Kontext, wie die Kriminalisierung verschiedenster Aspekte von Sexarbeit die sexuelle Gesundheit und Arbeitsschutzpraktiken (occupational health and safety, OHS) von indoor arbeitenden Sexarbeiter*innen beeinflusst. Der Fokus liegt dabei auf Metro Vancouver und vergleicht die Situation mit den OHS-Best-Practice-Richtlinien aus Neuseeland („Guide to Occupational Health and Safety in the New Zealand Sex Industry“), einem der wenigen Länder mit (teilweise) entkriminalisierter Sexarbeit.
Die Autor*innen verorten OHS als umfassendes Konzept, das alle Aspekte von Gesundheit, Sicherheit und Wohlbefinden in Arbeitskontexten umfasst – darunter Zugänglichkeit des Arbeitsplatzes, Arbeitszeitregelung, physische und psychische Gesundheit sowie Zugang zu persönlicher Schutzausrüstung (z.B. Kondome, Gleitmittel). Obwohl OHS ein wichtiges Rahmenwerk für Sexarbeit darstellen könnte, wird es durch die anhaltende Kriminalisierung oft tatsächlich unterminiert.
In Kanada wurde 2014 ein sogenanntes „End-Demand“-Gesetz eingeführt, das den Kauf sexueller Dienstleistungen sowie verschiedene dritte Parteien (wie Arbeitsplatzbetreiber*innen oder Sicherheitskräfte) kriminalisiert. Die Annahme, dass dritte Parteien grundsätzlich ausbeuterisch seien, führt zu einer Kriminalisierung auch kollaborativer Arbeitsformen und Peer-Support – mit weitreichenden Folgen für die Arbeitsbedingungen und Rechte von Sexarbeitenden.
Ziele und Methode
Die zentrale Fragestellung der Studie: Inwieweit können Sexarbeiter*innen in diesem kriminalisierten Umfeld die OHS-Best-Practice, angelehnt an den neuseeländischen Guide, tatsächlich umsetzen? Welche Barrieren bestehen insbesondere im Bereich der sexuellen Gesundheit?
Die Studie basiert auf 47 qualitativen Interviews (2017–2018) mit indoor arbeitenden Sexarbeiter*innen sowie sogenannten „dritten Parteien“. Die Teilnehmenden wurden gezielt in verschiedenen indoor Umgebungen (Massagepraxen, Beauty-Spas, Apartments, Hotels) rekrutiert, um die Diversität an Arbeitsorten und Hintergründen abzubilden. Der Großteil (66%) der Befragten hatte einen Migrationshintergrund, über die Hälfte identifizierte sich als asiatisch. Methodisch wird eine Mischung aus deduktivem und induktivem Vorgehen sowie die Einbettung in sozialepidemiologische Rahmenwerke („social determinants of health“) gewählt.
Zentrale Ergebnisse
Peer-Education und mangelnde formelle Sexualaufklärung
Ein zentrales Ergebnis ist, dass Sexualaufklärung und OHS-relevantes Wissen vor allem informell im Kolleg*innenkreis weitergegeben werden („peer-driven education“). Formelle Schulungen oder offen kommunizierte Sicherheitsrichtlinien, wie sie der neuseeländische Guide vorschlägt, gelten aufgrund der Kriminalisierung als riskant: Bereits sichtbare Sexualaufklärungsposter oder sogar die Präsenz von Kondomen könnten bei Polizeirazzien als „Beweis“ für illegale Aktivitäten gewertet werden.
Viele Teilnehmerinnen wünschen sich Sexualaufklärung von öffentlichen Institutionen oder Organisationen, und zwar in ihrer Muttersprache. Es gibt jedoch kaum Angebote in Sprachen außer Englisch – ein besonders großes Problem für Sexarbeitende mit Migrationshintergrund. Auch fehlt Sexualaufklärung für Kunden (z.B. zu Hygiene und Safer Sex), wodurch die Verantwortung und Belastung bei den Sexarbeiter*innen liegt.
Barrieren beim Zugang zu sexueller Gesundheitsversorgung
Die große Mehrheit der Befragten gibt an, regelmäßige Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten zu machen. Fast alle erleben jedoch Stigma in Gesundheitskontexten: Die Angst, als Sexarbeiterin erkannt bzw. beurteilt zu werden, führt dazu, den Beruf zu verschweigen oder falsche Angaben zu machen (z.B. „Ich bin fremdgegangen“). Einige nutzen Strategien wie das Aufsuchen verschiedener Kliniken, um nicht aufzufallen („clinic hopping“). Besonders betroffen von sprachlichen Hürden, rassistischer Diskriminierung und kulturell geprägtem Stigma sind Sexarbeitende mit Migrationshintergrund; viele wünschen sich Gesundheitsangebote in ihrer Muttersprache.
Innovativer sind sexarbeiter*innen-geführte Peer-Programme, die als besonders unterstützend und niedrigschwellig erlebt werden. Dennoch kann in einem Klima allgegenwärtiger Stigmatisierung und Unsicherheit keine wirklich gleichberechtigte, schambefreite Gesundheits- oder Testinfrastruktur geschaffen werden.
Zugang und Umgang mit persönlicher Schutzausrüstung (PPE)
Sexarbeiter*innen in den Studieninterviews demonstrieren hohe Eigeninitiative und Wissen bezüglich PPE, insbesondere rund um die Nutzung und Beschaffung von Kondomen und Gleitmitteln. Die Bereitstellung dieser Materialien obliegt in der Realität jedoch fast ausschließlich ihnen selbst – obwohl der neuseeländische Guide Arbeitgeber und Betreiber dazu verpflichtet sieht.
Viele „dritte Parteien“ in Kanada verweigern sogar das Auslegen oder Verteilen von Kondomen am Arbeitsplatz – aus Angst, dies könne bei Kontrollen als Beweis für Gesetzesbruch gelten. Auch Outreach-Stellen, die PPE verteilen, werden oft nicht toleriert. Das Resultat: Sexarbeiterinnen müssen selbst kaufen, oft fehlt es an Auswahlmöglichkeiten (z.B. bei Allergien). Die Regelungen zu Kondompflicht und Umgang mit Beschädigungen/Betrug (z.B. absichtliches Zerreißen durch Kunden) werden, wenn überhaupt, informell am Arbeitsplatz geregelt. Unterstützt werden Betroffene fast ausschließlich durch ihre Peers, nicht durch formalisierte Strukturen.
Auswirkungen von Kriminalisierung und strukturellem Stigma
Die Studie verdeutlicht, dass Kriminalisierung nicht nur die Bereitstellung von PPE und Gesundheitsaufklärung behindert, sondern auch Wettbewerbsdruck und Intransparenz im Markt verstärkt. Die „Kondompolitik“ unterscheidet sich von Ort zu Ort – einige Arbeitsplätze setzen durch, dass ohne Kondom gearbeitet wird, um im Wettbewerb zu bestehen. Gerade für migrantische und/oder rassifizierte Sexarbeiter*innen sind solche Rahmenbedingungen besonders gefährlich.
Die Isolation von Sexarbeitsumgebungen durch Kriminalisierung verhindert nicht nur Kooperation und Peer-Support, sondern verstärkt auch psychischen Stress, Gefühl der Unsicherheit und die Anfälligkeit für Ausbeutung. Sexarbeitende, die mehrfachen Diskriminierungen (z.B. aufgrund von Migration, Sprache, Geschlecht) ausgesetzt sind, erleben diese Hindernisse potenziert.
Bewertung und Meinung der Autor*innen zur Entkriminalisierung
Die Autor*innen sprechen sich unmissverständlich für die vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit aus – und zwar in allen Aspekten, einschließlich aller dritter Parteien (zur Ermöglichung kollektiver OHS-Strukturen) und auch für migrantische Sexarbeitende. Begründet wird diese Haltung zentral mit mehreren Argumenten:
Kriminalisierung behindert grundlegende OHS-Strukturen: Die Angst vor Strafverfolgung verhindert die Umsetzung von Empfehlungen aus dem neuseeländischen Guide wie die Bereitstellung von PPE am Arbeitsplatz oder niedrigschwellige, mehrsprachige Zugänge zu Gesundheitsangeboten.
Stärkung von Peer-Support und kollektiven Lösungen: Ohne die Bedrohung durch eine kriminalisierende Gesetzgebung könnten Sexarbeiter*innen besser zusammenarbeiten, Arbeitswege entwickeln, Expertise weitergeben und gemeinsam auf strukturelle Verbesserungen hinarbeiten.
Entkriminalisierung ist notwendig, aber nicht ausreichend: Auch in Neuseeland persistiert Stigma, insbesondere gegen nicht-bürgerliche Sexarbeitende. Neben Gesetzesänderungen bedarf es daher gezielter Anti-Stigma-Initiativen, Sprachkompetenz- und Bildungsangebote sowie Sensibilisierung von Gesundheitspersonal.
Zugang zu PPE und Gesundheitsversorgung darf nicht von Arbeitgeber*innen oder sprachlichen/kulturellen Barrieren abhängen: Die finanzielle und praktische Last darf nicht auf den Sexarbeitenden liegen, sondern muss von den Arbeitsstätten bzw. via umfassender öffentlicher Programme und Peer-Initiativen getragen werden.
Spezielle Unterstützung und Gleichbehandlung von migrantischen Sexarbeitenden: Das Zusammenspiel aus Migrationspolitik, Rassismus und Sexarbeitsgesetzen produziert eine besonders marginalisierte Gruppe, der dringend rechtlicher Schutz und partizipative Programme garantiert werden müssen.
Die Autor*innen unterstreichen, dass das bestehende System – geprägt von Stigma, Kriminalisierung und mangelnder politischer Berücksichtigung der Realitäten von Sexarbeit – nachweislich negative Auswirkungen auf die Gesundheit, Sicherheit und Rechte der Betroffenen hat. Sie fordern eine klare Abkehr vom End-Demand-Modell (Nordisches Modell) und die Schaffung eines Rahmens, in dem Sexarbeit als Arbeit anerkannt wird und organisatorische, rechtliche und gesundheitliche Schutzmechanismen greifbar werden.
Politische Empfehlungen
Die wichtigsten Empfehlungen der Studie lauten:
Vollständige Entkriminalisierung aller Aspekte von Sexarbeit, inklusive dritter Parteien
Entkriminalisierung von migrantischer Sexarbeit und Abschaffung migrationsrechtlicher Sanktionen
Gezielte Programme zur Förderung von Gesundheit, Inklusion und Beschäftigungsmöglichkeit für Sexarbeitende mit Migrationshintergrund
Ausbau mehrsprachiger, sexarbeiter*innen-geführter OHS-Programme
Entwicklung spezifischer, partizipativer Ressourcen und Richtlinien – für und mit den Communities
Zukunftsforschung zu breiteren OHS-Themen (über sexuelle Gesundheit hinaus)
Schlussfolgerung
Die Studie macht deutlich, dass trotz hoher Eigeninitiative und internem Peer-Support unter Sexarbeiterinnen strukturelle Barrieren zur Gesundheitsversorgung und zur formellen OHS-Umsetzung bestehen bleiben, solange Kriminalisierung und Stigma vorherrschen. Die Forschenden plädieren daher für ein politisch und gesellschaftlich grundlegend anderes Modell: Deutlich mehr Rechte, Schutz und Teilhabe für Sexarbeitende – nach dem Prinzip „für Sexarbeiterinnen, mit Sexarbeiter*innen“. Nur so können OHS-Best-Practices breit umgesetzt und gesundheitliche Ungleichheiten tatsächlich abgebaut werden.
Der Volltext der Studie (englisch) findet sich hier.