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Die Studie „The regulation of sex work in Aotearoa/New Zealand: An overview“ von Johanna Schmidt (2017) bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte, Regulierung und Auswirkungen der Prostitution in Neuseeland, insbesondere im Zusammenhang mit dem Prostitution Reform Act (PRA) von 2003.

1. Einleitung: Prostitution als gesellschaftliches und feministisches Thema

Prostitution wird in westlichen Gesellschaften traditionell nicht als gewöhnliche Dienstleistung angesehen, sondern ist mit moralischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Kontroversen behaftet. Insbesondere die Geschlechterverhältnisse im Sexgewerbe – mit überwiegend männlichen Kunden und weiblichen Dienstleisterinnen – führen dazu, dass Prostitution als feministische Fragestellung verhandelt wird. Die Autorin betont, dass Sexarbeiterinnen in einem Geflecht aus Machtverhältnissen agieren, das sich auf ihr Arbeits- wie Privatleben auswirkt.

2. Heteronormativität als theoretischer Rahmen

Schmidt verankert ihre Analyse in der Theorie der Heteronormativität. Diese postuliert, dass heterosexuelle Beziehungen – insbesondere monogame, reproduktive Sexualität – gesellschaftlich als „normativ“ gelten, während alle Abweichungen als „abweichend“ klassifiziert werden. Daraus ergibt sich ein geschlechtsspezifisch strukturiertes Verständnis von Sexualität. Frauen gelten als „natürliche“ Versorgerinnen und Mütter, während Männer einem angeblich biologisch bedingten, starken Sexualtrieb folgen – der sogenannte „male sex drive“-Diskurs (Hollway). Dieses Diskursmuster legitimiert männliche Sexualität als natürlich und unvermeidlich, während weibliche Sexualität normativ reguliert wird.

3. Die Geschlechterordnung im Sexgewerbe

Auf dieser Grundlage wird die gesellschaftliche Wahrnehmung von Prostitution strukturiert: Männer als Nachfrager werden toleriert, während Frauen als Anbieterinnen moralisch abgewertet werden. Frauen in der Prostitution galten als Abweichung vom Idealbild weiblicher Sexualität.

Zudem ist das Sexgewerbe klassistisch und ethnisch segmentiert: „Höherwertige“ Tätigkeiten wie Escortservices sind tendenziell weißen, gebildeteren Frauen vorbehalten, während Straßensexarbeit überproportional von Māori oder Pasifika-Frauen mit geringerer formaler Bildung ausgeübt wird.

4. Geschichte der Prostitution in Neuseeland vor dem PRA

Prostitution war in Neuseeland stets präsent, wurde aber bis zur Einführung des PRA moralisch und rechtlich problematisiert. Obwohl der Akt des Sexverkaufs nie explizit verboten war, war eine Vielzahl damit verbundener Handlungen wie das Anwerben in der Öffentlichkeit illegal. Diese Kriminalisierung betraf fast ausschließlich Anbieterinnen, während männliche Kunden rechtlich unbehelligt blieben.

Gesetze wie der Contagious Diseases Act (1869), der Vagrant Act (1886) und der Police Offences Act (1884) zielten vor allem auf die Kontrolle weiblicher Sexualität ab. Die Kriminalisierung hatte erhebliche negative Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen, etwa im Hinblick auf Arbeitssicherheit, Gesundheit, psychisches Wohlbefinden und gesellschaftliche Anerkennung.

5. Probleme vor dem PRA

Vor der Reform litten Sexarbeiterinnen unter strukturellen Benachteiligungen:

  • Arbeitsbedingungen: Sexarbeiterinnen in Massagesalons hatten keine Arbeitnehmerrechte. Ausbeuterisches Verhalten von Betreiber*innen konnte nicht rechtlich geahndet werden.

  • Gesundheit: Der Besitz von Kondomen konnte als Beweis für Prostitution gelten – ein Hindernis für sichere Praktiken.

  • Psychische Gesundheit: Die gesellschaftliche Stigmatisierung führte zu inneren Abspaltungen und emotionaler Belastung, insbesondere in Kombination mit Illegalität.

  • Sicherheit: Kriminalisierte Frauen konnten Gewalt oft nicht anzeigen. Besonders Straßensexarbeiterinnen waren erhöhten Risiken ausgesetzt.

  • Soziale Stellung: Kriminalisierung führte zu Vorstrafen, erschwerte Ausstiegsmöglichkeiten und verschlechterte Bewerbungschancen.

6. Der Prostitution Reform Act (PRA) von 2003

Mit dem PRA wurde Neuseeland zum weltweit ersten Land, das Prostitution vollständig entkriminalisierte. Ziel war es, die Menschenrechte von Sexarbeiter*innen zu schützen, Ausbeutung zu verhindern, Gesundheit zu fördern und Minderjährige zu schützen. Das Gesetz erlaubt Sexarbeit unter bestimmten Auflagen (z. B. Mindestalter 18 Jahre) und integriert das Gewerbe als normale Dienstleistungsbranche.

Die Debatte um das Gesetz war stark von feministischen Kontroversen geprägt:

  • Radikalfeministische Perspektiven (z. B. schwedisches Modell): sehen Prostitution als Form männlicher Machtausübung. In Schweden ist der Kauf von Sex verboten, nicht aber der Verkauf – dies soll Frauen schützen und Männer bestrafen. Allerdings zeigen Studien, dass dadurch die Arbeitsbedingungen gefährlicher werden (z. B. durch Verlagerung in unsichtbare Räume).

  • Liberale Perspektiven: begreifen Prostitution als freiwillige Dienstleistung, deren Risiken durch Legalisierung reduziert werden können. Diese Position wurde mehrheitlich von Betroffenen selbst unterstützt.

7. Umsetzung und Auswirkungen des PRA

Der PRA wurde von einem begleitenden Überprüfungskomitee (Prostitution Law Review Committee, PLRC) evaluiert. Die wichtigsten Erkenntnisse:

  • Größe der Branche: Es gab keine nachweisbare Zunahme der Sexarbeiter*innen nach der Reform.

  • Rechte und Kontrolle: Sexarbeiter*innen fühlten sich rechtlich gestärkt und konnten besser über Kunden, Praktiken und Arbeitsbedingungen entscheiden.

  • Gesundheit: Die gesetzlich verpflichtende Safer-Sex-Praxis führte zu einem Rückgang von Infektionen. Die Pflicht zur Verwendung von Kondomen wurde gesetzlich geregelt.

  • Sicherheit: Das Vertrauen in die Polizei nahm zu. Die Möglichkeit, gewalttätige Kunden anzuzeigen, wurde häufiger wahrgenommen. Straßensexarbeiterinnen blieben jedoch besonders gefährdet.

  • Wohlbefinden: Die Entkriminalisierung hatte positive Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden, auch wenn Stigmatisierung bestehen blieb.

  • Strukturelle Ungleichheit: Menschen mit wenig „Humankapital“ (Bildung, Sprache, rechtlicher Status) bleiben am stärksten marginalisiert. Die Ungleichheiten innerhalb der Branche bestehen fort, z. B. zwischen Indoor- und Straßensexarbeit.

8. Fazit und Ausblick

Der Prostitution Reform Act gilt international als fortschrittliches, moralisch neutrales Modell zur Regulierung von Sexarbeit. Er hat signifikant zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Rechte und Sicherheit von Sexarbeiter*innen beigetragen. Dennoch bleibt Kritik bestehen:

  • Ungleichheit: Die tief verankerten geschlechtsspezifischen und klassistischen Machtverhältnisse bleiben unangetastet.

  • Stigmatisierung: Trotz rechtlicher Gleichstellung bleibt Sexarbeit gesellschaftlich marginalisiert.

  • Feministische Kritik: Beide Modelle (Schweden/Neuseeland) greifen zu kurz, weil sie die strukturellen Ursachen von Prostitution – etwa ökonomische Ungleichheit und patriarchale Sexualnormen – nicht hinterfragen.

Schmidt plädiert dafür, dass zukünftige Politik stärker von den Stimmen der Sexarbeiter*innen selbst geprägt sein sollte und dass feministische Theorie weiter an der Dekonstruktion heteronormativer Machtverhältnisse arbeiten muss. Denn auch wenn Gesetzesänderungen hilfreich sind, können sie tief verwurzelte gesellschaftliche Normen nicht alleine verändern.

Der Volltext der Studie (englisch) findet sich hier.