Die Studie ‘Global Epidemiology of HIV Among Female Sex Workers: Influence of Structural
Determinants’.beleuchtet die weltweite HIV-Epidemie unter weiblichen Sexarbeiterinnen (FSWs)
und analysiert dabei die Rolle struktureller Faktoren, die das Risiko einer HIV-Infektion
beeinflussen. Sie zeigt auf, wie soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie
individuelle Verhaltensweisen und biologische Faktoren zusammenwirken, um HIVInfektionsrisiken
zu erhöhen oder zu mindern. Die Forscher:innen untersuchten systematisch
epidemiologische Daten und entwickelten modellbasierte Szenarien, um die Auswirkungen
verschiedener Interventionsstrategien zu simulieren.
Überblick über die HIV-Belastung unter FSWs
Frauen in der Sexarbeit tragen weltweit eine unverhältnismäßig hohe HIV-Belastung. In 50 Ländern
mit niedrigem und mittlerem Einkommen liegt die durchschnittliche HIV-Prävalenz bei 11,8 %, was
einer 13,5-fach höheren Wahrscheinlichkeit im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung von Frauen im
reproduktiven Alter entspricht. Besonders hoch ist das Risiko in Subsahara-Afrika, Russland und
Osteuropa, wo HIV-Infektionen oft mit anderen gesundheitlichen und sozialen Herausforderungen
wie Armut, Stigmatisierung und geschlechtsspezifischer Gewalt einhergehen.
FSWs arbeiten unter sehr unterschiedlichen Bedingungen, von organisierten Bordellen und
Massagepraxen bis hin zu Straßenarbeit oder informellen Arrangements. Diese Vielfalt der
Arbeitsumfelder beeinflusst die Exposition gegenüber Risiken wie Gewalt, Diskriminierung oder
begrenztem Zugang zu medizinischen Diensten erheblich. Besonders problematisch ist die
Kriminalisierung der Sexarbeit in vielen Ländern, die FSWs in unsichere Arbeitsbedingungen
drängt, Gewalt fördert und den Zugang zu Kondomen und antiretroviralen Therapien behindert.
Strukturelle Determinanten der HIV-Risiken
Die Studie betont, dass strukturelle Faktoren wie Gesetze, gesellschaftliche Normen und
wirtschaftliche Unsicherheiten zentrale Determinanten für HIV-Risiken unter FSWs darstellen. Von
den 204 untersuchten Studien konzentrierten sich 43 % explizit auf strukturelle Einflussfaktoren.
Dabei lag der Fokus vieler Arbeiten auf Asien, insbesondere Indien und China, während in
Subsahara-Afrika, Russland und Osteuropa vergleichsweise wenige Studien vorliegen. Diese
geografische Disparität verdeutlicht eine wichtige Lücke in der Forschung, da gerade in diesen
Regionen die HIV-Belastung besonders hoch ist.
Ein Schlüsselproblem ist die Kriminalisierung der Sexarbeit, die FSWs in rechtlich und sozial
prekäre Situationen bringt. Kriminalisierung geht oft mit Polizeigewalt, Stigmatisierung und einem
erschwerten Zugang zu Gesundheitsdiensten einher. Frauen berichten häufig, dass sie aufgrund
ihrer Tätigkeit diskriminiert werden – sei es durch Verweigerung medizinischer Versorgung oder
durch die Konfiszierung von Kondomen durch die Polizei. Diese Maßnahmen erhöhen nicht nur die
gesundheitlichen Risiken, sondern tragen auch zur Marginalisierung und Entmenschlichung von
FSWs bei.
Gewalt als zentraler Faktor
Gewalt stellt eine der gravierendsten Herausforderungen für FSWs dar und ist eng mit einem
erhöhten Risiko für HIV-Infektionen verbunden. Physische und sexuelle Gewalt durch Kunden, die
Polizei oder Dritte behindert häufig die Fähigkeit von Frauen, auf die Verwendung von Kondomen
zu bestehen, und führt zu Zwangssituationen mit hohem Infektionsrisiko. In Kanada und Kenia ist
der Zusammenhang zwischen Gewalt und HIV besonders ausgeprägt. Modellanalysen zeigen, dass
allein die Eliminierung sexueller Gewalt bis zu 20 % der HIV-Infektionen in Kanada und 17 % in
Kenia innerhalb eines Jahrzehnts verhindern könnte.
Darüber hinaus hat Gewalt nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige Auswirkungen auf die
Fähigkeit der Frauen, sich effektiv vor HIV zu schützen. So wird das Verhandlungspotential über
sichere Praktiken nachhaltig durch Erfahrungen von Traumata und die Angst vor erneuter Gewalt
beeinflusst.
Arbeitsumfeld und Community Empowerment
Das Arbeitsumfeld beeinflusst das HIV-Risiko erheblich. Frauen, die in formalen, sicheren
Einrichtungen wie registrierten Bordellen oder Arbeitskollektiven tätig sind, haben in der Regel
eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Kunden und einen besseren Zugang zu Kondomen.
Im Gegensatz dazu sind Frauen, die auf der Straße oder in informellen Umgebungen arbeiten,
häufiger Gewalt, Polizeischikanen und anderen Risiken ausgesetzt.
Ein Beispiel für erfolgreiche Interventionen ist das Ashodaya-Projekt in Indien, das auf
sexarbeiterinnengeführte Maßnahmen setzt. Dieses Modell kombiniert Aufklärung,
Gemeinschaftsorganisation und den Zugang zu maßgeschneiderten Gesundheitsdiensten. Die
Ergebnisse zeigen eine signifikante Erhöhung des Kondomgebrauchs sowie eine Verringerung von
sexuell übertragbaren Infektionen. Solche Projekte verdeutlichen, dass Empowerment und die
aktive Einbindung von FSWs in Präventionsprogramme entscheidend für die Eindämmung der
Epidemie sind.
Modellierung der Auswirkungen von Interventionen
Die Studie analysierte mit modellbasierten Szenarien die potenziellen Auswirkungen struktureller
und gemeinschaftsorientierter Interventionen. Die Ergebnisse zeigen, dass ein Ansatz, der mehrere
Faktoren gleichzeitig adressiert, den größten Effekt auf die Eindämmung der HIV-Epidemie hat.
Beispiele:
Kanada: Die Kombination aus sichereren Arbeitsumfeldern, der Reduzierung von Gewalt
und der Entkriminalisierung könnte bis zu 46 % der HIV-Infektionen verhindern.
Kenia: Die Ausweitung von antiretroviralen Therapie-Programmen auf FSWs und ihre
Kunden könnte 34 % der Infektionen vermeiden.
Indien: Gemeinschaftsorganisationen wie das Avahan-Projekt könnten durch die Förderung
von Kondomgebrauch und Empowerment bis zu 62 % der Infektionen in bestimmten
Regionen verhindern.
Die Entkriminalisierung der Sexarbeit erweist sich als besonders effektive Maßnahme. Durch die
Reduzierung von Gewalt, Stigmatisierung und Polizeischikanen sowie die Förderung sicherer
Arbeitsbedingungen könnten in verschiedenen Kontexten bis zu 46 % der HIV-Infektionen
vermieden werden.
Politische und gesellschaftliche Implikationen
Die Studie betont, dass strukturelle Veränderungen notwendig sind, um die HIV-Epidemie unter
FSWs effektiv einzudämmen. Dazu gehören:
1. Reform diskriminierender Gesetze: Die Entkriminalisierung der Sexarbeit wird von
internationalen Organisationen wie der WHO und UNAIDS als Schlüsselstrategie
empfohlen.
2. Bekämpfung von Stigmatisierung: Die gesellschaftliche Akzeptanz von FSWs ist
essenziell, um den Zugang zu Präventions- und Gesundheitsdiensten zu verbessern.
3. Förderung sicherer Arbeitsumfelder: Unterstützende Managementrichtlinien und
gemeinschaftsorientierte Ansätze können das Risiko erheblich reduzieren.
4. Ausbau von Präventionsprogrammen: Der Zugang zu Kondomen, HIV-Tests und
antiretroviralen Therapien muss ausgeweitet werden, insbesondere in Regionen mit hoher
HIV-Belastung.
Fazit
Die Studie zeigt, dass die HIV-Epidemie unter FSWs ein komplexes Problem ist, das ein
koordiniertes Vorgehen auf verschiedenen Ebenen erfordert. Neben biomedizinischen
Interventionen sind umfassende strukturelle Veränderungen notwendig, um die Menschenrechte von
FSWs zu schützen und die HIV-Belastung zu reduzieren. Der Fokus sollte dabei auf der
Entkriminalisierung, der Reduzierung von Gewalt und der Förderung von Empowerment liegen.
Nur durch solche integrativen Ansätze können nachhaltige Fortschritte erzielt werden.
Der Volltext der Studie (englisch) findet sich hier.