Die Studie von Niina Vuolajärvi analysiert kritisch die sogenannte „Nordic Model“-Politik im Umgang mit Prostitution. Diese Politik, die ursprünglich in Schweden eingeführt und später auch in Norwegen und Finnland in variierenden Formen übernommen wurde, zielt darauf ab, den Kauf sexueller Dienstleistungen zu kriminalisieren, während der Verkauf legal bleibt. Dies wird mit einem feministischen-humanitären Argument legitimiert: Die Käufer – meist Männer – sollen bestraft, während die Verkäuferinnen – meist Frauen – geschützt werden. Die Studie, die auf über zwei Jahren ethnografischer Feldforschung und 195 Interviews basiert, zeigt jedoch, dass die Umsetzung in der Praxis eine ganz andere Realität schafft: Eine, die insbesondere für migrantische Sexarbeiter*innen mit erheblichen repressiven und ausgrenzenden Konsequenzen verbunden ist.
Vuolajärvi argumentiert, dass das sogenannte nordische Modell nicht in erster Linie durch die Kriminalisierung von Freiern wirkt, sondern vielmehr durch die Anwendung von Einwanderungsrecht und Gesetzen gegen Dritte, die Sexarbeit unterstützen (z. B. Vermieterinnen oder Hotelbetreiber). So ergibt sich eine doppelte Regulierung: Während einheimische Sexarbeiterinnen über Sozialmaßnahmen wie Therapie und Ausstiegsprogramme angesprochen werden, erfahren migrantische Sexarbeiter*innen Repression, Ausweisungen, Wohnungsverlust und institutionelle Diskriminierung. Dieser Gegensatz entlarvt das humanitäre Schutzversprechen des Modells als selektiv und widersprüchlich.
Ein zentrales Anliegen der Autorin ist es, die Diskrepanz zwischen den ideologischen Absichten des Gesetzes und seiner tatsächlichen Umsetzung – also zwischen „Law in the Books“ und „Law in Action“ – sichtbar zu machen. Während das Gesetz vorgibt, Frauen vor Ausbeutung zu schützen, werden insbesondere Migrantinnen, die den Großteil der Sexarbeiterinnen im untersuchten Raum ausmachen, mit repressiven Maßnahmen konfrontiert. In Schweden, Norwegen und Finnland ist der Verkauf von Sex zwar legal, aber migrantischen Personen – insbesondere aus Drittstaaten – wird häufig die Einreise verweigert oder sie werden abgeschoben, wenn der Verdacht besteht, dass sie sexuelle Dienstleistungen anbieten.
Besonders bedrohlich für migrantische Sexarbeiterinnen ist die Anwendung von Gesetzen gegen Dritte („Third Party Laws“). Diese umfassen nicht nur klassische Zuhälterei, sondern auch jede Form der Unterstützung wie Wohnraumvermietung, Schutz, Transport oder technische Hilfe beim Kontakt mit Kunden. In der Praxis führt dies dazu, dass Sexarbeiterinnen aus Wohnungen und Hotels vertrieben werden. Die Angst, als Vermieterin oder Hotelbetreiberin kriminalisiert zu werden, führt dazu, dass sichere Arbeitsorte für Sexarbeiter*innen verschwinden. Die Betroffenen müssen auf inoffizielle, teils ausbeuterische Wohn- oder Arbeitsverhältnisse zurückgreifen, was ihre Verletzlichkeit gegenüber Gewalt und Ausbeutung erhöht.
Die Studie zeigt anschaulich anhand zahlreicher Interviewausschnitte, wie sich die Angst vor Polizei, Abschiebung und Wohnungslosigkeit auf das Leben von migrantischen Sexarbeiter*innen auswirkt. Eine zentrale Erfahrung ist dabei die ständige Unsicherheit und die Angst, die eigene Identität oder das Aufenthaltsrecht zu verlieren. Viele berichten, dass sie bei Gewaltübergriffen nicht die Polizei rufen, weil sie befürchten, danach ausgewiesen oder strafrechtlich verfolgt zu werden. Auch wenn die Gesetze formal nicht gegen sie gerichtet sind, wirken sie faktisch kriminalisierend – etwa wenn Polizeikontrollen zur Datensammlung oder Ausweisung genutzt werden. In Ländern wie Schweden kann allein die Vermutung, dass jemand sich nicht „ehrlich“ finanzieren will, zur Abschiebung führen.
Diese Praxis steht in krassem Gegensatz zur feministischen Rhetorik des Gesetzes. Zwar wird behauptet, dass Frauen nicht kriminalisiert, sondern geschützt werden sollen. In der Realität jedoch werden insbesondere nicht-europäische Sexarbeiter*innen zur Zielscheibe von Ausgrenzung, Kontrolle und Vertreibung. Die humanitäre Schutzrhetorik dient dabei als moralischer Deckmantel für Maßnahmen, die faktisch eine Disziplinierung, Kontrolle und Abschreckung darstellen. Diese Form von Governance bezeichnet Vuolajärvi als „punitiven Humanitarismus“: Regieren im Namen des Mitgefühls, aber mit repressiven Mitteln.
Ein weiteres Problem des nordischen Modells liegt in der fehlenden institutionellen Unterstützung für Migrantinnen. Während schwedische oder norwegische Staatsbürgerinnen Zugang zu staatlichen Hilfsangeboten, Sozialleistungen und Ausstiegsprogrammen haben, sind diese für Migrantinnen ohne permanente Aufenthaltstitel nicht zugänglich. Viele Migrantinnen, die gern in reguläre Arbeitsverhältnisse überwechseln würden, erhalten keine Arbeitserlaubnis oder finden keine Arbeitgeber, die bereit wären, ein solches Visum zu beantragen. Die „Ausstiegsangebote“ des Staates beschränken sich im besten Fall auf ein Rückflugticket in das Herkunftsland – im schlimmsten Fall auf Abschiebung und Stigmatisierung.
Vuolajärvi arbeitet zudem heraus, dass die Gesetzgebung und politische Rhetorik stark rassifiziert sind. Bestimmte ethnische Gruppen – insbesondere nigerianische Frauen – werden überproportional kontrolliert, abgeschoben und aus der Sexarbeit gedrängt. In Schweden, Norwegen und Finnland berichten Betroffene von intensiven Polizeikontrollen, bei denen insbesondere schwarze Frauen gezielt aus Hotels und Wohnungen vertrieben werden. Oft werden sie nachts auf der Straße kontrolliert oder durch fingierte Kundenkontakte der Polizei identifiziert und später abgeschoben. Diese Form der selektiven Strafverfolgung zeigt, dass rassistische Vorannahmen tief in die Anwendungspraxis eingebettet sind.
Besonders drastisch sind die Auswirkungen der repressiven Gesetzgebung auf die Sicherheit der Betroffenen. Viele Sexarbeiter*innen berichten, dass sie sich nicht mehr trauen, Polizei oder soziale Dienste um Hilfe zu bitten – selbst bei Übergriffen, Vergewaltigungen oder Bedrohungen. Sie fürchten Repressalien, Datenweitergabe oder Wohnungskündigungen. Dadurch entsteht ein Zustand rechtlicher Schutzlosigkeit. Der Zugang zu Unterstützungsstrukturen wird nicht nur durch Aufenthaltsstatus, sondern auch durch Stigmatisierung und fehlende schadensreduzierende Maßnahmen erschwert. Dies betrifft insbesondere Schweden, wo der Fokus sozialer Dienste auf moralisch-therapeutischen Ausstiegshilfen liegt und schadensminimierende Ansätze kaum unterstützt werden.
In ihrer abschließenden Analyse vergleicht Vuolajärvi die Umsetzung des Modells in Schweden, Norwegen und Finnland. Während Schweden als ideologisch konsequentester Verfechter des Modells gilt und einen besonders repressiven Kurs verfolgt, zeigt sich Finnland vergleichsweise moderater. In Finnland ist der Kauf sexueller Dienstleistungen nur unter bestimmten Bedingungen strafbar (etwa bei Verdacht auf Menschenhandel), und die Gesetzesanwendung ist weniger aggressiv. Dennoch existiert auch hier eine doppelte Regulierungsstruktur, die Migrant*innen benachteiligt.
Zusammenfassend kommt die Autorin zu dem Schluss, dass das nordische Modell nicht wie behauptet zum Schutz von Sexarbeiterinnen beiträgt, sondern vielmehr zu einer zweigleisigen, repressiven Migrations- und Sozialpolitik führt. Während nationale Sexarbeiterinnen (teilweise) sozialstaatlich unterstützt werden, werden migrantische Frauen systematisch ausgeschlossen, kontrolliert und abgeschoben. Der vermeintliche Schutz durch das Gesetz entpuppt sich in der Praxis als strukturelle Gewalt. Die Symbolpolitik des feministischen Humanitarismus kaschiert eine politische Realität, in der ungleiche Machtverhältnisse, Grenzregime und soziale Kontrolle überwiegen. Das Gesetz sei weniger ein Instrument des Schutzes als vielmehr ein Mittel, soziale Normen durchzusetzen und den öffentlichen Raum zu säubern.
Vuolajärvi plädiert abschließend für eine radikale Neubewertung der aktuellen Prostitutionspolitik. Statt eines moralisch-ideologischen Kampfes gegen Prostitution fordert sie eine pragmatische, menschenrechtsbasierte Politik, die auf die tatsächlichen Lebensrealitäten von Sexarbeiter*innen eingeht. Dazu gehöre der Zugang zu Rechten, Arbeit, Schutzräumen und gesundheitlicher Versorgung – unabhängig von Herkunft, Aufenthaltsstatus oder moralischer Bewertung sexueller Arbeit.
Der Volltext der Studie (englisch) findet sich hier.