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Zwischen Supportive Sexwork und Girlfriend Experience – Eine fließende Grenze

[In der St. Michael Kirche sitzend.] Die Orgel spielt – jemand übt. Wir haben uns vor einer halben Stunde verabschiedet. Mir rennen die Tränen. Danke Helena!

War unsere Begegnung ein Fest der Menschlichkeit? Bei der Atmosphäre in dieser Kirche, die ich ganz zufällig betreten habe, kommt man in die Versuchung, sich eine Nachricht „von oben“ zusammenzureimen (auch wenn mir die religiösen Gedanken ganz fremd sind): „So menschlich war es, so voll Hingabe. Ein Fest der Seele und des Körpers. Alles blieb gut. Alles ist gut. So sollte es auch sein. So soll es immer sein.“

Warum zittere ich? Ist es so kalt hier? Die tiefsten Töne der Orgel durchdringen mich. „So sollte es sein. Es lebe der Moment, es lebe das Leben!“ – solche Gedanken gehen mir durch den Kopf… Das Zentrum von München, fünf Zugstunden von der österreichischen Stadt entfernt, in welcher meine Frau und ich leben – der wohl unwahrscheinlichste Ort, mich anzutreffen. Aber ich bin trotzdem hier, zutiefst bewegt, innere Ruhe suchend, nach einer Begegnung, die gestern Nachmittag ihren Lauf genommen hat…

[Im Zug sitzend, noch einige Stunden vom Zuhause entfernt.] Zeit zum Nachdenken… Was hat mich zu Helena gebracht…? Fünf Jahre früher – die Coronazeit. Ich, damals 60, im Dauerstress und meine an Demenz erkrankte Mama pflegend. In einem tiefen Loch. Einen Ausweg suchend, um meine psychische Stabilität zu retten, ja wiederzuerlangen, stoße ich auf eine französische Fitnessplattform im Internet, die mich mit den Videos aus der ganzen Welt extrem motiviert. Die Trainings zu Hause – radeln, rudern -, dann sogar einen Kajak anschaffen und in der Natur paddeln – all das ändert in den kommenden Jahren mein Leben. Ich fühle mich geistig ruhiger, genieße das Bergsteigen, Wandern, Paddeln, Reisen. Mein Selbstbild bessert sich allmählich. Ich fühle mich physisch besser als es seit Jahrzehnten der Fall war. Wage mich ohne Angst auf Unternehmungen, die mich körperlich stark beanspruchen. Gleichzeitig fehlen mir aber die Umarmungen, Berührungen, ja die körperliche Nähe und Zweisamkeit, immer mehr. Immer öfter reflektiere ich über mein Leben. Was das Sexuelle betrifft, bin ich seit langem auf die Solovariante angewiesen (aus vielen Gründen). Auch früher hatte ich vergleichsweise ganz wenig Erfahrung. Nun sind aber neue Interessen erwacht – ich entdecke Begriffe wie Slow Sex, Tantramassage… Den Videos und Crosspostings folgend, stoße ich auf die Welt der Escorts.

Ui, die Prostitution – nicht mit meinen Werten und mit meiner Ehe zu vereinbaren. Aber eine Welt öffnet sich vor mir, ich bin neugierig und forsche weiter… Auf meinem „Radarschirm“ tauchen starke, beeindruckende Persönlichkeiten auf. Menschen, die Sex lieben, ihn suchen und ihre Zeit (mitunter auch für den Sex) für Geld anbieten. Menschen, die ihren eigenen (sexuellen) Weg entdecken, erforschen und verfolgen, gleichzeitig aber eine große Freude beim Helfen und Unterstützen anderer finden. Auch der Begriff „Supportive Sexwork“ ist mir ganz neu. Wäre das vielleicht etwas für mich?

Ich folge einer Sexarbeiterin, der J., im Internet. Für mich eine ganz neue Welt. Eine Begegnung mit J. könnte mir viel bedeuten – ich denke, dass es mir besser gehen wird. Das Begehren und dieser Wunsch plagen mich wochenlang, da so etwas für mich nur mit einem Einverständnis meiner Frau in Frage kommt. Und sie will ich keinesfalls verletzen, nicht mal mit der Frage selbst. Nach einigen Wochen, bei einem gemeinsamen Spaziergang, auf einer Bank sitzend, versuchte ich das Thema behutsam zu öffnen. Und die Reaktion war positiv. Für mich ist das der Ausdruck einer großen Liebe.

J. beeindruckt mich zutiefst. Ich schreibe sie an und wir vereinbaren ein einstündiges „Plauderdate“ im Internet, ganz ohne sexuelle Themen. Dabei haben wir, dank mir, sogar technische Probleme gehabt. Einige Tage später, reflektierend, sagt mein Bauchgefühl: Nein. Stop!

Aber ausgerechnet durch ein Posting von J. kommt eine ihrer Kolleginnen – die Helena – ins Zentrum meines Interesses. Ihre Podcasts, ihre Homepage, ihr Auftritt auf Social Media, fesseln mich regelrecht. Hier meldet mein Bauchgefühl immer wieder: Go! Nach mehrtägigem Überlegen schicke ich ihr eine lange „Bewerbung“ mit dem Vorschlag, für 3-4 Tage nach Österreich zu kommen. Sie lehnt die mehrtägigen Overnights bei einem neuen Kunden ab, schlägt aber ein Overnight auf dem halben Weg zwischen uns vor.

[Im Zug, schon in Österreich.] Ich erinnere mich an gestern… Helena wartet auf mich vor dem Hotel. Unsere Blicke kreuzen sich über die Straße. Sie breitet die Arme aus, mich mit diesem ihrem so netten, natürlichen Lächeln anlächelnd. Wir umarmen uns liebevoll und ich fühle mich sofort gut. Kurz einchecken und wir sind in der Suite. Ich bin von meinem vorherigem dreistündigem Spaziergang müde und verschwitzt. Auf dem Sofa reden wir ganz gemütlich und beschließen, einen Spaziergang zu machen und dabei ein Café aufzusuchen. Unterwegs tauchen auch tiefe, schwierige Themen auf: Unsere verstorbenen Eltern, das Leben und Sterben. Ich bin überrascht und geehrt, wie viel von ihrem eigenen Leben mir Helena preisgibt. Das bewegt mich zutiefst. Wieder zurück im Hotel entscheiden wir uns für die Sauna. Gemeinsame Entscheidung? Nicht wirklich – Helena fragt mich nämlich absolut immer, was ich will – nichts muss sein, es gibt kein Script, alles kann abgelehnt werden. Ich soll mich mit allem gut fühlen. Wir beide lieben Saunabesuche (was noch vor fünf Jahren für mich gar nicht galt). Jeder zieht sich selbst aus und schlüpft in den Bademantel. Kurz darauf sitzen wir nackt nebeneinander, schwitzend. Mein erster Besuch einer Sauna mit einer Frau (zu der ich mich mittlerweile emotional nahe fühle). Wie wird das sein? Diesmal darf ich den Anblick einer wunderschönen Frau in der Sauna voll genießen. Ich merke, dass es mir gut geht – alles unter Kontrolle. Alles ist gut. Jeder von uns duscht sich danach, wir schlüpfen wieder in die Bademäntel und legen uns eng nebeneinander in eine Liegekoje, leicht umarmt, leise redend. Zurück in der Suite finden wir, dass es Zeit wird, zum Italiener zu gehen. Glück gehabt – wir werden zu einem Tisch geführt. Es duftet super. Wir sind beide hungrig und – wartend – reden wir wie gedruckt. Ein junger, verführerisch aussehender „Italiano vero“ bringt uns die Getränke, dabei Helena tief und lang anschauend. Sie schaut zurück und wendet sich eine Sekunde danach – scheinbar demonstrativ – wieder mir zu. Das leckere Essen wird genossen, während unsere Lebenserfahrungen und Weltanschauungen Länge mal Breite ausgetauscht werden.

Zurück in der Suite, liebevoll nebeneinander auf dem Sofa liegend, streichelt Helena zärtlich und absichtslos meine Arme, den Oberkörper. Ich erwidere, total absichtslos. Mir ist es sehr angenehm. Helena bringt mich geschickt und fließend dazu, über meine Probleme und Wünsche zu reflektieren. [Von mir wusste sie natürlich schon vor dem Treffen, dass ich sehr wenig Erfahrung habe, dass es mein erstes Escortdate sein wird und dass ich es gerne hätte, dass unsere Annäherung sehr langsam vor sich geht. Wenn ich jetzt darüber denke, wird mir klar, wie sehr sie sich jedes Detail merkte. Sie wird mit mir später sehr verständnisvoll, unterstützend und helfend harmonieren, basierend auf dem, was ich preisgegeben habe.] Ich frage, ob wir uns ausziehen sollen. Im Schlafzimmer stehend, angezogen, berühren und umarmen wir uns lange, sehr zärtlich. Ziehen uns dann ganz langsam gegenseitig aus, wieder mit vielen Umarmungen. Sie bleibt in einem zierlichen, nicht aufschreienden schwarzen Dessous, das mit ihrer hellen Hautfarbe einen tollen Kontrast bildet. Ich in einer lustigen seidigen Boxershorts (gekauft vor 30 Jahren für eine damals erhoffte spezielle, aber nie realisierte Begegnung). Ich genieße Umarmungen. Für mich ist das ein Fest des weiblichen Körpers. Liegend genießen wir das gegenseitige Berühren immer mehr. Was sich dann entwickelt, wie mein Körper agiert und reagiert, wie toll wir harmonieren, wie verschwitzt das Tuch unter uns am Ende ist – das alles überrascht mich völlig, da es meinen minimalistischen Erwartungen an mich selbst und an meinen „falsch“ konditionierten Körper stark widerspricht. Es ist ein zutiefst emotionales und körperliches Erlebnis. Einfach WOW! Und wohlgemerkt, es waren keine Orgasmen dabei, da ich einen solchen bei mir explizit (und noch vorher besprochen) nicht angestrebt habe.

Zur frühen Stunde, halb angezogen, lagen wir auf dem Sofa, das Bier trinkend, redend, reflektierend. Sechs Stunden später, nach überraschend ruhigem Schlaf, reden wir und dann frühstücken wir gemeinsam. Das Ende des Märchens rückt immer näher…

Bei unserer letzten Umarmung, auf der Straße, sagte sie: „Bleib so, wie Du bist.“ Liebe Helena, DANKE Dir aus ganzem Herzen für Deine Menschlichkeit, Hingabe, Unterstützung, für diese ganze Girlfriend Experience! Danke Dir auch für die kleinen, sehr diplomatisch und unaufdringlich ausgesprochenen Ratschläge fürs Zuhause. Einen solchen Menschen sich als Begleiterin zu Hilfe zu holen ist in meinen Augen eigentlich unbezahlbar. Supportive Sexwork für Geist und Körper.